OKR – die DDR im agilen Methodenkasten (Teil 1)

 

Als ich die ersten Male von OKR (Objective and Key Results) gehört habe, dachte ich mir: klarer Fall von Bullshit! Das lag weniger an den Inhalten, als an der Art und Weise, wie darüber geredet wurde. Ziele kaskadieren, messbar machen und dadurch agil werden. Im BWL-Studium haben Professoren mich noch mit Management by Objectives geknechtet als Peter Drucker schon längst seine eigenen Thesen revidiert hatte. Nachdem nähere Beschäftigung mit den Standardwerken und der Historie der Methode, habe ich meine Meinung allerdings geändert.

 

Ich bleibe aber zumindest teilweise bei meiner ursprünglichen Meinung: OKR sind wie Sozialismus – in der Theorie sehr vielversprechend, in der Praxis wartet man 15 Jahre auf seinen Trabbi. Viele Unternehmen missbrauchen OKR, um in pyramidalen Organisationen Ziele der Unternehmensführung von oben nach unten durchzupeitschen. Da spielt es auch keine Rolle, ob man das in einem pseudoagilen Prozess mit OKR-Master macht. Trotz der unbestrittenen Vorteile sind OKR eine Methode, bei der man vor Anwendung unbedingt den Beipackzettel lesen sollte.

OKR und Superkräfte?

Es gibt inzwischen mehr Frameworks mit angedichteten Superkräften als Marvel-Blockbuster. OKR werden vier Superkräfte nachgesagt:

1.      Fokus auf das Wesentliche und Verbindlichkeit der Prioritäten

Erfolgreiche Unternehmen konzentrieren sich auf wenige Initiativen und setzen diese konsequent um. OKR verhindert, dass sich Unternehmen verzetteln und zeitgleich viele Großprojekte starten, die letztendlich versanden. Dadurch, dass Projekte schneller umgesetzt werden, gewinnen Unternehmen schneller Daten, mit denen sie den Erfolg der Projekte bewerten können. Falsche Entscheidungen können sie so korrigieren. Nicht getroffene Entscheidungen lassen sich nicht validieren. OKRs sind transparent und öffentlich für alle einsehbar. Die Öffentlichkeit erhöht die Selbstverpflichtung von Führungskräften.

2.      Gemeinsame Ausrichtung aller Mitarbeiter und Verknüpfung des eigenen Engagements mit den Zielen des Teams

OKRs stärken die Zusammenarbeit von Mitarbeitern. Jeder kann alle OKRs einsehen – vom Trainee bis zum Vorstand. Im Idealfall sind die OKRs aufeinander abgestimmt und auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet. Es gibt keine Hintergedanken und lokale Optimierung. Wenn die Ziele doch voneinander abweichen, zeigt sich das sofort. Zielkonflikte können unmittelbar ausgeräumt werden. Silos werden eingerissen und interne Machtkämpfe verhindert.

3.      Nachverfolgung und Übernahme von Verantwortung

OKR ist datengetrieben. Sobald OKRs festgelegt sind, kann die Umsetzung gemessen werden. Das gibt die Chance zur kontinuierlichen Überprüfung und Anpassung von Maßnahmen. Alle Mitarbeiter erhalten so messbares Feedback zu ihrer Arbeit. Allerdings immer mit der Haltung, nicht nach Schuld zu suchen, sondern Daten objektiv zu bewerten und nach Verbesserungspotentialen zu suchen. OKR schreibt zwingend vor, zu reflektieren, weshalb Ziele nicht erreicht werden konnten. So wird ein Lernprozess in Gang gesetzt, der sich von der traditionellen Auswertung von Jahreszielen unterscheidet. Mit Management by Objectives wird mit Blick auf den auszuzahlenden Bonus eher darüber gefeilscht, ob das Ziel jetzt zu 60% oder 70% erreicht wurde. Chef und Mitarbeiter tauschen sich nicht offen darüber aus, was man ändern muss, um beim nächsten Mal 100% zu erreichen.

4.      Nach den Sternen greifen

OKR verankert im Idealfall ambitionierte Visionen in der operativen Arbeit. Dabei sind die Ziele immer ein Stück zu hoch als man sich realistisch zutraut. Die Grundgleichung lautet „je höher das Ziel, desto größer die Leistung“. Erfolgreiche OKR-Anwender erreichen Ihre Ziele in 30% der Fälle nicht. Häufig sehen bei ihnen aber zu Beginn eines Zyklus fast alle Ziele unerreichbar aus. Die Organisationen gehen also regelmäßig über ihre vermuteten Leistungsgrenzen hinaus und schaffen das Unmögliche. Und wenn sie es nicht schaffen, wird niemand verurteilt.

Weitere Vorteile von OKR

Es gibt darüber hinaus noch weitere positive Aspekte. OKR ist per se eine gute Kur gegen das weit verbreitete „Shiny-Object-Syndrom“. Schnelle Anpassung an Veränderungen ist für Firmen überlebensnotwendig, aber ad-hoc alles umzuschmeißen, weil der Chef einen TED-Talk von Elon Musk gesehen hat, führ ins Chaos. Durch die fixen Intervalle gleicht das OKR-Framework, Anpassungsfähigkeit und Stabilität aus. Die Organisation kann ihre Ausrichtung vollständig und mit Wucht ändern, aber nicht zu jeder Zeit. Kurze Störungen werden so ignoriert und wichtige Impulse gleichzeitig konsequent aufgegriffen.

 

OKR ersetzt Handlungsfähigkeit durch theoretische Expertise, um Aufgaben zu wuppen anstatt über Lösungen zu debattieren. In einigen Unternehmen stehen die am besten ausgebildeten Fachexperten auf einem hohen Sockel über den Pragmatikern. OKR beruht nicht auf dem, was man „weiß“, sondern auf dem was man schafft. Anwendbares Wissen erfährt im Gegensatz zu unnützem theoretischem Wissen hohe Wertschätzung.

 

Die überwiegende Mehrheit von Studien spricht nach wie vor dafür, dass Ziele Menschen motivieren. OKR berücksichtigt das, indem jeder Mitarbeiter individuelle Ziele erhält. Der Fortschritt der Zielerreichung für jeden sichtbar gemacht. Die zusätzliche Anerkennung durch Kollegen im Erfolgsfall motiviert stärker als finanzielle Anreize. OKR stiftet nicht nur Wert, durch gemeinsame Ausrichtung, sondern auch in dem Mitarbeiter auf individueller Ebene motiviert werden.

Kritische Punkte im Zusammenhang mit OKR:

OKR bringt Risiken mit sich, die auch in den absoluten Standardwerken beschrieben werden. In den aufpolierten Folien der Beratungshelden werden diese Risiken allerdings selten genannt. Aber wer hat in den rasanten Zeiten der Digitalisierung schon Zeit für ganze Bücher? Voraussetzung für eine erfolgreiche Einführung von OKR sind eine kreative Unternehmenskultur und die besten Leute. Wenn beides nicht vorhanden ist, wird das Unternehmen nicht auf Knopfdruck innovativer, bloß weil sich das jetzt alle Mitarbeiter als Ziel auf die Fahnen schreiben. Mitarbeiter müssen auch die Fähigkeiten und Befähigung haben, um ihr Potential in den Dienst des Unternehmens zu stellen.

 

Außerdem ist es unerlässlich, dass Mitarbeiter die Chance haben, eigene Ziele von unten in den Prozess einzubringen. Auch im OKR-Framework bleibt es eine Wahrheit, dass Mitarbeiter im Kundenkontakt sehr häufig bessere Antennen für Marktveränderungen haben als der Vorstand. Die unterschiedlichen Impulse von Peripherie und Zentrum müssen ausgeglichen werden.

 

Es muss außerdem Freiraum für Experimente außerhalb von OKR geben. Jeder kennt Googles 20-Prozent-Regel, aber trotzdem empfehlen einige Experten, mehr als 100% der Ressourcen durch OKRs zuzuweisen. Wenn in jedem Zyklus alle Kapazitäten überplant werden, versiegen wichtige Quellen für neue Ideen: Persönlicher Austausch, teamübergreifende Zusammenarbeit, Geistesblitze an der Kaffeemaschine, Raum für freies Denken. Kleine Iterationen ersetzen disruptive Innovationen.

 

OKR setzt außerdem voraus, dass Führungskräfte die Anforderungen an ihre Rolle verinnerlicht haben. Sie müssen einerseits Mitarbeiter befähigen, anstatt Druck aufzubauen. Anderseits müssen sie verstehen, dass Führung immer der wesentlichste Teil ihrer Rolle ist und nicht Stillarbeit, um die eigenen OKRs zu erreichen.

 

Bei IBM gab es bereits vorher eine offene Kultur. Der Legende nach zählte bei Diskussionen in Meetings nur das Argument und nicht der Rang desjenigen, der es einbringt.

 

Weitere Risiken hängen damit zusammen, wie OKR als Methode wahrgenommen wird.

 

Aber dazu mehr in einem der nächsten Artikel.

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